Wildes Deutschland – Dein Hund, der Sofawolf

Im Zuge der Domestikation tritt bei vielen Tierarten eine physische und psychische Verkindlichung gegenüber der Wildform ein. Die Gesichtszüge werden runder, das Fell bunter und das Wesen verspielter. Dein Hund ähnelt mit seinem kindlichen Wesen in vielerlei Hinsicht einem jugendlichen Wolf, bevor sich mit Eintritt der Geschlechtsreife beim Wolf der Drang zur Selbstständigkeit durchsetzt. Dein Hund orientiert sich daher an dir wie ein Jungwolf an seinen Eltern, den Leittieren seines Rudels. In diesem Teil der Reihe über die Rückkehr der Wölfe nach Deutschland erfährst du, was einen guten Leitwolf ausmacht und wie du natürliches Wolfsverhalten für dein Hundetraining nutzen kannst.

Woelfe 5
Herdenschutzhund der Rasse Maremmano-Abruzzese bewacht Schafherde in der Lausitz

Was bedeutet es, ein Leittier zu sein?

Generell hat man als Leittier mehr Pflichten als Rechte. Als Familienoberhäupter sind die Elterntiere sehr stark an der Harmonie in der Gruppe interessiert. Sie haben eine Vorbildfunktion und strahlen soziale Kompetenz aus. Bedeutet dies, dass sie in allen Lebenslagen cool und abgeklärt reagieren? Keineswegs! Auch Wolfseltern kommen hin und wieder in Situationen, die sie überraschen, doch dies tut ihrem Ansehen in der Familie keinen Abbruch, denn sie bleiben authentisch. Auch für deine Beziehung zu deinem Hund ist es wichtig, zu allererst ein Vertrauensverhältnis aufzubauen. Du musst nicht perfekt sein für deinen Hund, aber verlässlich und einschätzbar. Der Wolfsforscher Günther Bloch schreibt dazu in einem seiner Bücher: „Wolfseltern geben den Pulsschlag des Familienlebens vor, lassen aber auch individuelle Persönlichkeitsentwicklungen großzügig zu. Wer (als Jungwolf) nichts von ihnen lernen will, ist nicht nur zu bedauern, sondern verzichtet freiwillig auf eine exzellente Möglichkeit, souveränes Handeln zu kopieren.“

Benimmregeln

Elterntiere achten stark auf das soziale Miteinander im Rudel. Oft bekommen wir Menschen es gar nicht mit, wenn unsere Hunde sich ruhig und höflich verhalten. Anstatt deinen Hund für Fehlverhalten zu bestrafen, achte auf wünschenswertes Verhalten und belohne es! Sind Wolfseltern von ihrem Nachwuchs genervt, so erfolgt die Verhaltenskorrektur zeitlich sehr präzise. Wölfe ignorieren ihren Nachwuchs nicht, und sie sind auch nicht nachtragend. Ein gezielter Verhaltensunterbrecher, mit dem du deinem Hund auf freundliche Art und Weise Grenzen setzen kannst, ist der Geschirrgriff.

Vom Tagesablauf der Wölfe lernen

Wölfe haben ein großes Hobby: Schlafen! Tatsächlich verschlafen Wölfe zwei Drittel ihres Lebens. Sorge dafür, dass dein Hund ausreichend schläft und ihm ein ruhiger Platz zur Verfügung steht, an dem er wirklich abschalten kann. Wenn Wölfe satt sind und geschlafen haben, dann erkunden sie schon mal ganz ungezwungen ihre Umwelt. Sie sind nicht immer auf der Jagd und patrouillieren auch nicht immer zielgerichtet ihr Revier. Oft bummeln sie einfach durch die Gegend und trödeln herum. Auch du musst deinen Hund nicht auf jedem Spaziergang geistig auslasten. Erkundet gemeinsam entschleunigt und ungezwungen eure Umwelt. Lasst es langsam angehen und genießt euer Beisammensein. Wölfe sind sehr soziale Familienwesen. Ist die Nahrungsversorgung gesichert, so beschäftigen sie sich viel miteinander, albern herum und pflegen familiäre Bande. Lass auch du deinen Hund am Alltag teilhaben und vermittle ihm, dass er ein Teil der Familie ist.

Das Jagdverhalten

Das Jagdverhalten von Wölfen dient der Funktion des Nahrungserwerbs. Es besteht aus mehreren Sequenzen einer Verhaltenskette, die jeweils selbstbelohnend sind und ineinander überleiten: Orten – Lauern – Anpirschen – Hetzen – Packen – Töten – Fressen. Bei unseren Hunden wurden, je nach ursprünglichem Verwendungszweck der Rasse, einzelne Sequenzen besonders hervor- oder weggezüchtet. Selbstverständlich können wir es unseren Hunden nicht erlauben, ihre jagdlichen Bedürfnisse unkontrolliert auszuleben. Daher müssen wir schon etwas kreativ sein, um sie bedürfnisgerecht auszulasten. Was macht deinem Hund draußen am meisten Spaß? Orientiert er sich gerne durch Wittern und Lauschen? Lauert er gerne und pirscht sich an? Arbeitet er hochmotiviert eine Fährte aus? Oder liebt er es, im Spiel zu hetzen und zu packen? Eine wunderbare Möglichkeit, Hunde in vielfältiger Weise jagdlich auszulasten, ist das 10 Leckerchen Spiel mit seinen zahlreichen Varianten.

Futterarbeit

Haben Wölfe Beute gemacht, dann ist es gar nicht so einfach, an das Muskelfleisch und die Innereien heranranzukommen. Die Haut von Wildtieren ist sehr robust. Doch Wölfe haben sehr scharfe Reißzähne, mit denen sie wie mit einem Messer die Haut durchdringen können. Man geht davon aus, dass besonders das Zerlegen der Beute als Endsequenz des Jagdverhaltens einen selbstbelohnenden Effekt hat und dem Wolf ein hohes Maß an Befriedigung verschafft. Gib deinem Hund zu Arbeiten! Verpacke sein Futter in Papierrollen oder Eierkartons, die er genüsslich zerrupfen kann, oder befülle einen Kong.

Bogenförmige Annäherung

Herdenschutzhunde leben gemeinsam mit den Schafen auf der Weide und im Stall. Sie werden schon als Welpen auf Schafe sozialisiert und betrachten sie als ihre Familie. Ihr Job ist es, Alarm zu schlagen, wenn ein Wolf sich nähert, und ihn durch ihre körperliche Präsenz davon abzuhalten, den Schutzzaun zu überwinden. Eine Schäferin berichtete kürzlich, dass einer ihrer Herdenschutzhunde durchaus erfolgreich sich nähernde Wölfe durch Bellen in die Flucht schlägt. „So richtig flippt er aber erst aus, wenn ein kleiner Westie neben seinem Herrchen am Fahrrad an der Weide vorbeiläuft“. Wie kann das sein? Der Wolf nähert sich der Herde auf canidentypische Art: vorsichtig, in großem Bogen, den Kopf immer wieder absenkend, schnuppernd, in moderatem Tempo. Der Westie dagegen wird, beschränkt durch die am Fahrrad befestigte Leine, in einer geraden Linie und in hohem Tempo frontal auf die Weide und den Herdenschutzhund zugeführt. Unter Caniden ist das ein absolut unhöfliches Verhalten, welches nicht nur den Herdenschutzhund in Rage, sondern auch den kleinen Westie in eine überaus missliche Lage versetzt. Versuche immer, dich mit deinem Hund anderen Hunden deeskalierend in einem Bogen anzunähern. Falls dies nicht möglich ist, dann nutze die Möglichkeit, auf den anderen Hund zuzupendeln.

Nicht locken!

Die Gefahr, in Europa von einem Wolf angegriffen und getötet zu werden, ist etwa so hoch, wie gleich zwei Mal einen Sechser im Lotto zu haben. Die umfangreichste Studie zur Gefährlichkeit von Wölfen ist in Fachkreisen als NINA-Studie bekannt. Laut dieser Studie wurden in den letzten 50 Jahren in Europa insgesamt neun Menschen von Wölfen getötet. In fünf Fällen war das Tier an Tollwut erkrankt. Die vier Unfälle mit gesunden Tieren sind alle auf Provokation (der Wolf wurde in die Enge getrieben) oder Habituierung zurückzuführen. Habituierung bedeutet, dass Wildtiere über einen längeren Zeitraum angefüttert werden und dabei dreistes Verhalten gegenüber Menschen entwickeln. Tatsächlich stellt das Anlocken von Wölfen eines der größten Gefährdungspotentiale in der Beziehung zwischen Wolf und Mensch dar. Der Wolf wird dadurch nämlich in einen Konflikt gebracht. Einerseits möchte er sehr gerne das Futter haben und ist daher motiviert, die Distanz zum Menschen zu verringern. Andererseits fürchtet er sich aber vor dem Menschen und möchte gerne die Distanz zum Auslöser seiner Furcht vergrößern. Diese gegensätzlichen Motivationen lösen großen Stress im Körper aus, und Stress wiederum macht das Auftreten von Aggression wahrscheinlicher. Für deinen Hund heißt das: Hat dein Hund Angst vor fremden Menschen, dann solltest du ihn nicht von diesen mit Futter locken lassen. Vermeide es auch bei Angst vor Gegenständen oder anderen Tieren, deinen Hund in die Situation zu locken. Gib deinem Hund Zeit, sich in sicherer Entfernung mit der für ihn bedrohlichen Situation auseinanderzusetzen. Eine gute Methode, deinen Hund an Angstauslöser heranzuführen, ist Click für Blick.

Hunde sind keine Wölfe mehr

Auch wenn ein Großteil der Wissenschaftler davon ausgeht, dass der Wolf der alleinige Vorfahre unserer Haushunde ist, sind Hunde keine Wölfe mehr. Jahrtausende des Zusammenlebens mit uns Menschen und gezielte Selektion haben sie in ihrem Aussehen extrem verändert und auch ihr Verhalten beeinflusst. Rein optisch hat ein Dackel nur noch sehr wenig mit einem Wolf gemeinsam. Trotzdem lassen sich viele Verhaltensweisen unserer Hunde aus dem Erbe ihrer Vorfahren ableiten und dieses Erbe bereichert auch unser Leben, wenn wir es in unserem gemeinsamen Alltag annehmen.

Quellen

Über die Autorin

Simone Müller ist Eigentümerin der Hundeschule Training4Paws in der Nähe von Heidelberg. Sie ist geschulte NABU Wolfsbotschafterin und geprüfte Hundetrainerin (ATN). Als Anglistin bietet sie neben Einzelcoachings auch Übersetzungsdienste und Seminarorganisation für englischsprachige Dozenten zu Hundethemen an.
Nähere Infos zum Angebot rund um Wolf und Hund unter https://www.training4paws.de

Simone ist Teil des Gremiums für Training und Ausbildung der Wildlife Detection Dogs e.V., einem Verein zur Ausbildung und zum Einsatz von Spürhunden in Artenschutz und Wildtiermonitoring. Sie ist Mitglied in mehreren Vereinen und Verbänden wie dem Freundeskreis freilebender Wölfe e.V., der Trainervereinigung Trainieren satt Dominieren und dem Berufsverband der Pet Dog Trainers of Europe (PDTE).
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