Fanatismus? – Oder: Weil es kein „zu gut“ oder „zu fair“ geben kann

Vor wenigen Tagen blieb Corinnes Aufmerksamkeit bei einer Diskussion auf Facebook hängen, in der jemand kommentierte, dass die Vertreter des positiven Trainings sehr fanatisch seien und nicht in der Lage, über ihren eigenen Tellerrand zu schauen. Extreme seien nie gut, weder in die eine, noch in die andere Richtung. Schließlich könne man nicht auf alle Hunde die gleichen Trainingsmethoden anwenden, um Erfolg zu haben. Wenn Corinne so etwas liest oder hört, stellt sie sich persönlich immer gerne die Frage, ob es ein „zu gut“ im Umgang mit unserem Gegenüber eigentlich geben kann, unabhängig davon, ob es sich dabei um einen Menschen oder um ein Tier handelt. Kann ich tatsächlich „zu fair“ zu jemanden sein? Kann ich mich gegenüber einem anderen Lebewesen „zu positiv“ verhalten? Kann ich in meinem Bestreben, gut mit dem anderen umgehen zu wollen, tatsächlich „zu extrem“ sein? Corinne Keller, Systemtherapeutin, über den Vorwurf an positiv arbeitende Trainer, sie seien „extrem“.

zu gut
Bildquelle: Lara Meiburg Photographie

Fanatismus beginnt laut Dudendefinition dort, wo man sich „für etwas leidenschaftlich und rücksichtlos einsetzt“. Rücksichtlos umfasst dabei „das Verhalten, das die besonderen Gefühle, Interessen, Bedürfnisse und die besondere Situation anderer unberücksichtigt lässt.“ Nun hat Positives Training aber gerade die Individualität, die Bedürfnisse und die besondere Situation im Blick und ist bestrebt, fair und rücksichtsvoll mit dem Tier umzugehen. Für mich bietet daher dieses Argument des Fanatischen auf dieser Ebene keinen Halt.

Weil’s funktioniert! Reicht das als Berechtigung?

Mir stellt sich daher die Frage, ob hinter der Argumentation, dass manche Vertreter des positiven Trainings in ihrer Ansichten viel zu fanatisch seien, sich nicht vielleicht auch der Versuch verbirgt, seine eigene Fehlbarkeit zu rechtfertigen und dem fehlbaren Verhalten einen Mantel der Akzeptanz zu geben, um sich nicht weiter damit auseinander setzen zu müssen? Muss ich tatsächlich meinem Verhalten im Umgang mit anderen, sei es Mensch oder Tier, Berechtigung verleihen, indem ich sage, dass es nicht schade, wenn ich mich gegenüber dem anderen auch einmal gehen lasse, Druck anwende oder gar strafe? Gerade hinsichtlich Tieren und Kindern, so wird gerne argumentiert, funktioniere schließlich die eine oder andere druckausübende Methode sehr gut und man müsse nicht immer diskutieren, sondern dürfe ja wohl Respekt und Folgsamkeit erwarten. Wenn es funktioniere, dann sei es auch nicht falsch. Ja, natürlich funktionieren solche Methoden in vielerlei Hinsicht. Die Frage, die sich mir hier jedoch stellt ist die: Zu welchem Preis?

Wie etwas beim anderen ankommt, bestimmt nicht der Sender

Selbstverständlich, egal ob Mensch oder Tier, sind wir alles Individuen. Jeder reagiert anders. Es spielt so vieles in eine Situation mit hinein und bestimmt unser aller Verhalten, unsere Reaktionen und das, was es innerlich mit uns macht. Der zu zahlende Preis ist also ganz individuell. Gerade das Internet zeigt mir immer wieder, wie hoch so ein Preis jedoch sein kann, wie zerbrechlich manches ist, welche Auswirkung ein kleiner Fehler mit sich bringen kann. Ein unglücklich formulierter Satz, eine falsch interpretierte Aussage. Wie etwas ankommt, haben wir nicht wirklich in der Hand. Wir stecken nicht in den Schuhen unseres Gegenübers, um beurteilen zu können, was in ihm zerbricht, was ihn triggert, was ihn verletzt. Manchmal nehmen wir die Verletzung des anderen durch unser Verhalten bewusst in Kauf, manchmal verletzen wir völlig unbeabsichtigt. Zu vielfältig sind die Faktoren, die wir nicht beeinflussen können. Und genau das sollte uns dazu anregen, genauer auf unseren Umgang mit anderen Lebewesen zu schauen.

Wie bereits ein kleiner Tintentropfen ein ganzes Glas trüben kann

Ich bin mir sicher, wir alle haben schon die Erfahrung gemacht, wie ein kleiner blauer Tintentropfen ein ganzes Glas voll klarem Wasser trüben kann. Und auch wenn wir klares Wasser nachschütten, so scheint sich die Trübung nicht einfach so neutralisieren zu lassen. Dieser Möglichkeit einer Trübung, die unser Verhalten beim anderen auslösen kann, sollte man sich im Klaren sein. Man sollte sich bewusst sein, dass jedes Verhalten, das mein Gegenüber als negativ empfindet, zu einer Trübung führen kann. Ja, dass auch bereits eine einzelne durch den Adressaten als negativ empfundene Reaktion bereits Wirkung haben kann und zu einer Trübung führt. Nur weil ich glaube, dass die Art meiner Reaktion, meines Verhaltens dem anderen nicht schadet, heißt dies noch lange nicht, dass dem auch so ist. Ich kann mir das wünschen, ich kann es hoffen, aber ich kann es nicht wissen. Wie stark nämlich die Trübung ins Gewicht fällt, bestimmt der Empfänger in seiner ganz eigenen individuellen Persönlichkeit und nicht der, der die Trübung auslöst. Wir können auch nicht wissen, wie viel wir an klarem Wasser nachschütten müssen, um eine Trübung nur annähernd neutralisieren zu können. Und ob eine Neutralisierung überhaupt möglich sein wird. Daher mag ich gerne nochmals die Frage in den Raum werfen: Welchen Preis bin ich bereit dafür zu zahlen, wenn ich ein druckausübendes, unfaires Verhalten aktiv und bejahend in mein Repertoire im Umgang mit anderen aufnehme?

Wertschätzendes Verhalten im Kontext eigener Erfahrung und Erziehung

Manchmal glaube ich, dass vielen nicht bewusst ist, welchen Preis sie dafür zahlen könnten. Oder sie empfinden diesen Preis als gar nicht so hoch, vielleicht weil es in ihrem Leben selbst Zeiten gab, in denen sie gelernt haben, dass manche der sie umgebenden Menschen nie auf den Preis eines solchen Verhaltens geachtet haben. Zu verstehen, was Wertschätzung eines anderen bedeutet, zu verstehen, was Achtsamkeit im Umgang mit dem anderen umfasst, ist oftmals auch damit verbunden, welche eigenen Erfahrungen man selbst damit gemacht hat. Wenn Wertschätzung im eigenen Leben immer etwas war, was man entbehren musste, so erlebe ich in meiner therapeutischen Praxis bei Menschen oftmals zwei Tendenzen für das eigene Sein und Handeln:
Die eine Tendenz spiegelt wieder, dass man sich damit abgefunden hat, dass Abwertung, Druck, Missachtung von Bedürfnissen zum Leben dazu gehört und zur Normalität im Umgang miteinander geworden ist. Mit dieser akzeptierten Normalität fehlt einem oftmals selbst das Gespür dafür, was einen wertschätzenden Umgang ausmacht und man ist eher geneigt, Abwertung, Druck usw. als einen natürlichen Umgang miteinander zu verstehen und weiß nicht genau, wie ein wertschätzender Umgang tatsächlich umfassend zu praktizieren ist. Manchmal ist da aber auch eine unterdrückte eigene Sehnsucht nach Wertschätzung, die zu einer Wut gegenüber dem anderen führt, was sich auch darin äußern kann, dem Gegenüber Wertschätzung zu verwehren.
Die andere häufige Tendenz bei Menschen ist die einer tief ins Bewusstsein eingegrabenen Sehnsucht nach Wertschätzung, was dazu führt, Wertschätzung als essentiell für den Umgang miteinander zu bewerten und sich darum in seiner Lebensweise zu bemühen, sich aber hierin auch als versagend und scheiternd zu erleben. Oftmals treibt dies die eigene Intention zur Verteidigung eines respektvollen und wertschätzenden Miteinanders so vehement an, dass man sich in einer extremen Form dieser Verteidigung verliert, ohne zu bemerken, dass man auf diese Weise Menschen mit anderer Meinung abwertet. Eine gewisse Art der Paradoxie: Man möchte der Wertschätzung eine Stimme geben, verliert sich in seinem Plädoyer dafür aber auch schon einmal in einer Geringschätzung gegenüber Andersdenkender.

Das Lernen bejahen

Generell ist es so, dass ich dort, wo ich für etwas eintrete, von dem ich überzeugt bin, immer auch auf Menschen treffen werde, die in meiner Meinung eine Abwertung ihrer eigenen Auffassung sehen, sich in ihren Gefühle verletzt und in ihren Bedürfnisse zurückgestoßen sehen. Der andere wird mich dann hier immer als fanatisch erleben und darauf oftmals mit seiner Form von Abwertung reagieren. Ein Kreislauf. Und in diesem Kreislauf geht manchmal etwas sehr wichtiges verloren: Dass es nicht ums Recht geht, sondern darum, dass Fairness und Wertschätzung etwas ist, auf dessen Grundlage wir alle bevorzugt miteinander leben und dass wir alle darin noch vieles lernen können. Skeptikern des positiven Trainings begegnet bei ihrer Argumentation, dass positives Training nicht bei jedem Hund funktioniere und daher eben auch eine härtere Hand von Nöten sei, oftmals das Gegenargument, dass man etwas falsch gemacht habe, wenn positives Training nicht funktioniere und man deswegen nicht zu dem Schluss kommen sollte, man käme nur mit einer härteren Hand weiter. Ja, das ist wahr. Im Grunde genommen ist an diesem Falschmachen und Scheitern auch nichts Verwerfliches. Denn manche Situationen sind so komplex und verlangen ein Agieren, das sich vieler Aspekte gleichzeitig bewusst ist, sodass es doch sehr menschlich ist, daran auch einmal zu scheitern. Genauso wie es menschlich ist, nicht immer alles wissen, planen oder tragen zu können.
Wir dürfen lernen. Wir dürfen uns auf eine Reise des Entdeckens begeben und wir dürfen hier auch stolpern. Wir dürfen aber auch wieder aufstehen.
Zu diesem Aufstehen gehört ein Reflektieren und Annehmen der eigenen Fehler. Manchmal bedeutet dies ganz schmerzhaft, sich mit seiner eigenen Fehlbarkeit auseinander zu setzen. Zu lernen zuzugeben, dass manche Situationen überfordern, dass manchmal der Stress die Impulskontrolle nimmt, dass für das richtige Agieren in manchen Situationen das Wissen und die Fähigkeiten fehlen.
Zu diesem Aufstehen gehört aber auch, sich den Staub von den Hosen zu klopfen, den eigenen Mangel zu füllen und sich eben nicht mit der eigenen Fehlbarkeit zufrieden zu geben und auf der Akzeptanz von Verhalten auszuruhen, was dem anderen schadet. Denn manches Mal hinterlässt dies Spuren beim anderen, die nicht so schnell heilen.
Es kann daher kein „zu gut“, „zu fair“ geben, wohl aber manches Mal ein „zu schwer“, ein „noch lernen müssen“.

Mut zu verzeihen

Ich habe vor einigen Tagen einen Satz gelesen, der mich sehr zum Nachdenken bewegt hat und von dem ich glaube, dass er ein Schlüssel dazu ist, im respektvollen Miteinander zu wachsen – sowohl gegenüber uns selbst, gegenüber unserem Mitmenschen und Mitgeschöpfen und auch gegenüber unserer Umwelt:
Habe Mut zu verzeihen. Dir und dem anderen.
Manchmal ist das verdammt schwer – aber es lohnt sich, fortwährend daran zu arbeiten.

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