Damit der sich dran gewöhnt

„Es geht mich ja nix an, aber es ist vielleicht keine so prickelnde Idee, deinen ängstlichen Hund hier mitten durch die Fußgängerzone zu schleifen. Schau mal, wie arg der zittert aus lauter Angst.“

„Das muss sein, damit der sich dran gewöhnt!“

So geschehen an der Ostsee in einer Eisdiele in Graal-Müritz. Jede Menge schlendernde Touristen drumherum, kreischende Kinder, schnelle Radfahrer. Der Hund mittendrin. Klein, ängstlich, sich ständig an Frauchen drückend, die aber damit beschäftigt war, ihr Eis zu bestellen. Wir waren zusammen mit Hey Fiffi-Trainerin Carolin Hoffmann vor Ort, die das Elend nicht mit ansehen konnte und Frauchen freundlich angesprochen hat. Einsicht der Halterin? Null!
Warum „Das muss sein, damit der sich dran gewöhnt“ keine so gute Voraussetzung ist, um deinem Hund Ängste zu nehmen oder gar nicht erst entstehen zu lassen, erklärt dir Sonja Meiburg.

dran gewöhnen

„Das muss sein, damit der sich dran gewöhnt!“ Hast du diesen Satz auch schon mal gehört? Den hörst du oft von Welpenbesitzern, die ihren Liebling möglichst schnell „sozialisieren“ wollen, damit sie ihn „überall mit hinnehmen“ können. Und du hörst ihn häufig von Haltern ängstlicher oder aggressiver Hunde in der Hoffnung, ihr Hund möge sich in bestimmten Situationen einfach nicht mehr aufregen oder Angst haben.

Beispiele gefällig?

„Das muss sein, damit der sich dran gewöhnt!“ geht daher häufig einher mit dem Bedürfnis der Halter, ihren Hund in alle möglichen und unmöglichen Situatiionen reinzuschleifen. Beispiele der letzten Zeit: Da bindet eine meiner Kundinnen ihren zukünftigen Schulhund trotz aller Warnungen bereits im Welpenalter am Lehrerpult fest und lässt ihn dort möglichst häufig von Kindern streicheln, damit er sich an die Situation in der Klasse gewöhnt (das kommt übrigens häufiger vor, wie ich gerade noch in einem Artikel über Schulhunde lesen durfte). Da setzte jemand seine zwei Welpen in seinem Laden in einen Kinder-Laufstall neben der Kasse, damit sie möglichst häufig von Kunden getätschelt werden und sich so an fremde Menschen gewöhnen (das war total lieb gemeint, er wusste es damals einfach nicht besser). Da werden Hunde durch Innenstädte, auf Bahnhöfe, auf Volksfeste gezerrt. Hunde, die bereits ein Problem mit Artgenossen haben, werden dann in sogenannte „Rauferstunden“ gesteckt oder auf möglichst vielen Hundewiesen sich selbst überlassen. Alles, damit sie sich doch bitte „daran gewöhnen“ und dann nicht (mehr) so ein Drama machen.

Was ist Gewöhnung?

Das Problem ist, dass die meisten Halter einfach nicht wissen, was „Gewöhnung“ bedeutet und worauf sie achten müssen, damit sich ihr Hund tatsächlich an etwas „gewöhnt“. „Gewöhnung“ bedeutet, dass dein Hund einen Reiz immer und immer wieder in der Weise wahrnimmt, dass sein Nervensystem irgendwann nicht mehr darauf reagiert und diesen Reiz als selbstverständlich hinnimmt und ihn ignoriert. Er speichert diesen Reiz als unbedeutend ab.

Das Problem

Und da sind wir auch schon beim Problem: „Gewöhnung“ findet nur statt, wenn der Hund den Reiz tatsächlich als „unbedeutend“ abspeichern kann! Wenn du dir aber mal meine Beispiele von oben nochmal durchliest, fällt dir da was auf? Wie soll ein Hund, der angebunden ist und nicht ausweichen kann, die sich annähernden Kinder und das Betatschen als „unbedeutend“ abspeichern? Wie soll ein Hund, der in einem Laufstall nicht ausweichen kann, Menschen, die sich über ihn beugen und ihn überall berühren, als „unbedeutend“ abspeichern? Wie soll ein Hund Dinge wie hektische Innenstädte, Bahnhöfe mit bedrohlichen Geräuschen, laute Volksfeste als „unbedeutend“ abspeichern? Das ist Bullshit! Die Wahrscheinlichkeit ist extrem groß, dass dein Hund solche Situationen als „bedrohlich“ und nicht als „unbedeutend“ abspeichert! Und zwar immer und immer wieder, weil du ihn immer und immer wieder in diese Situation bringst!

Sensibilisierung

Das Problem ist, dass dein Hund, wenn er die Reize als „bedrohlich“ abspeichert, mit der Zeit immer schneller darauf reagiert. Das ist normal! Unser Gehirn und auch das des Hundes ist dafür da, bedrohliche Reize möglichst früh zu erkennen, um schützend darauf reagieren zu können. Und je häufiger ein Hund eine Situation als „bedrohlich“ abspeichert, umso schneller oder heftiger reagiert er auf die Reize. Das nennt man „Sensibilisierung“.

Folgen der Sensibilisierung

Und was passiert, wenn dein Hund immer schneller oder heftiger auf Reize reagiert? Lass uns nochmal zu den Beispielen zurückkommen.
Der angebundene Schulhund fing irgendwann an, nach den Kindern zu schnappen, weil er die Berührungen, denen er nie ausweichen konnte, nicht mehr ertragen konnte. Zack, Schulhundkarriere erledigt.
Die Hunde, die im Laufstall den Kunden im Laden ausgesetzt waren, haben irgendwann angefangen, jeden, der in den Laden kam, bedrohlich anzubellen und zu stellen. Es war eine Menge Trainingsarbeit, bis die Hunde frei im Laden laufen konnten.
Hunde, die ängstlich auf andere Menschen oder Hunde reagieren, werden nicht selten mit der Zeit aggressiv, weil sie die Erfahrung gemacht haben, dass sie sich einer Situation nicht anders als durch Aggression entziehen können.
Und manchmal kommt es auch zum Shut-Down, wenn das Nervensystem des Hundes mit der Situation gar nicht mehr klarkommt. Dann siehst du Hunde, die mit hängenden Ohren und ziemlich apathisch und kaum noch ansprechbar hinter ihren Haltern hertröpfeln. Das ist dann die „erlernte Hilflosigkeit“, wenn dein Hund das Gefühl hat, es wäre völlig egal, was er tut, weil er eh nichts an der Situation ändern kann.

Gewöhnung: Ja, aber bitte richtig

Wenn du das verhindern möchtest, dann musst du die Sache mit der „Gewöhnung“ richtig anstellen! Das bedeutet, dass du deinen Hund NICHT einer Situation aussetzt, mit der er nicht umgehen kann, in der er Angst hat oder sich nicht anders als durch Aggression zu helfen weiß, in der Hoffnung, dass die unerwünschten Gefühlte und die damit verbundenen Reaktionen deines Hundes dann irgendwann einfach *puff* verschwinden. Das funktioniert so nicht! Das bedeutet stattdessen, dass du deinen Hund einer Situation nur so aussetzt, dass er möglichst keine oder nur sehr, sehr leichte Stressanzeichen zeigt und steigerst das dann in superkleinen Minischrittchen, bis dein Hund die Situation wirklich als „unbedrohlich“ und „unbedeutend“ empfindet. Und wenn du richtig klug bist, dann versuchst du nicht nur, deinen Hund an etwas zu „gewöhnen“, sondern du gibst deinem Hund in einer Situation, die er vielleicht etwas komisch finden würde, auch noch etwas, was er richtig gut findet und was richtig Laune macht! Das nennt man dann „Konditionierung“ und die hilft ziemlich gut dabei, die Bewertung einer Situation durch deinen Hund in Richtung „Okay, damit kann ich umgehen“ zu schubsen.

Ganz konkret

Für unsere Beispiele hieße das:
Der zukünftige Schulhund bekommt erst einmal die Gelegenheit, sein leeres Schulgebäude und das leere Klassenzimmer in Ruhe zu erkunden und als „sicher“ einzustufen. Dann lernt er einzelne Kinder kennen, die aber nicht direkt mit ihm interagieren, sondern die er erst einmal beobachten kann. Dann gibt es wunderbare Kennenlernspiele, die Kinder und Hunde unter kompetenter Aufsicht gemeinsam spielen dürfen. Und irgendwann kann der Hund auch mal für ein paar Minuten in ein Klassenzimmer gehen und den Schüler*innen so weit „Hallo“ sagen, wie er sich traut, immer liebevoll und sanft mit viel Wissen unterstützt.
Oder:
Wenn du deinen Hund mit in die Innenstadt nehmen möchtest, dann fährst du zunächst an den Rand der Innenstadt, machst dort mit deinem Hund ein kurzes, lustiges Spiel und lässt ihn seine Umgebung etwas erkunden. Und dann fährst du erstmal wieder heim. Beim nächsten Mal kannst du dich vielleicht mit ihm am Rand auf eine Bank setzen und das Treiben beobachten. Vielleicht möchte er dann ja von sich aus schon etwas mehr erkunden. Das darf er gerne. Und nach ein paar Minuten fährst du wieder heim. Und so weiter und so fort.
Immer so, dass dein Hund keine Angst zeigt! Und so, dass er sich immer wohlfühlt! So schaffst du es auch, dass dein Hund Situationen und Reize als „unbedrohlich“ oder vielleicht sogar als „unbedeutend“ wahrnimmt. Ihn immer wieder mitzuzerren, ohne Rücksicht auf Verluste, „damit er sich dran gewöhnt“, ist jedenfalls ne scheiß Idee! Das kannst du besser! Und je besser du das kannst, umso mehr profitiert auch dein Hund davon.
Habt Spaß miteinander!

Kommentare

3 Antworten zu „Damit der sich dran gewöhnt“

  1. Antje Schröder

    Hallo Sonja,
    dürfen wir den Beitrag auch auf der Facebookseite vom Qualitätsnwtzwerk Schulbegleithunde teilen?

    Dein Beispiel von der Kollegin in Ausbildung ist ja echt krass.
    Danke für so viele Beispiele.

    1. Liebe Antje,

      oh, das freut mich ganz irre, dass dir der Beitrag so gut gefällt!

      Ja, selbstverständlich, den könnt ihr gerne teilen!

      Liebe Grüße,
      Sonja

  2. CLAUDIA Rietenbach

    SEHR GUT ERKLÄRT ! DANKE!
    ICH KENNE LEIDER NOCH DEN SATZ :
    DA MUSS ER JETZT DURCH !! SCHLIMM DIESE
    TOTAL VERALTETEN ÄUSSERUNGEN !

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